Gemeinsame Entscheidungsfindung bei Autoimmunerkrankungen: Risiken und Nutzen abwägen

Gemeinsame Entscheidungsfindung bei Autoimmunerkrankungen: Risiken und Nutzen abwägen
Henriette Vogelsang 15 Dezember 2025 0 Kommentare

Warum du bei deiner Autoimmunerkrankung mitbestimmen solltest

Stell dir vor, dein Arzt legt dir drei Medikamente vor - ohne zu fragen, wie du lebst, was dir wichtig ist oder wie sehr du Angst vor Spritzen hast. Du nimmst das eine, das am meisten verspricht, und bist drei Monate später wieder da, weil du die Nebenwirkungen nicht aushältst. Das passiert zu oft. Bei Autoimmunerkrankungen wie Rheuma, Multipler Sklerose oder Morbus Crohn gibt es keine Einheitslösung. Was für den einen ein Wundermittel ist, kann für den anderen lebensverändernd sein - und das nicht immer positiv. Gemeinsame Entscheidungsfindung (gemeinsam mit dem Arzt, nicht gegen ihn) ist kein Modewort. Es ist der einzige Weg, die richtige Therapie für dein Leben zu finden.

Was ist gemeinsame Entscheidungsfindung wirklich?

Es ist nicht einfach: „Hier sind die Optionen, entscheide du.“ Das ist Informieren, nicht Mitentscheiden. Gemeinsame Entscheidungsfindung bedeutet: Du und dein Arzt sitzt zusammen, schaut auf die Zahlen, redet über deine Ängste, eure Prioritäten und findet gemeinsam raus, was für dich die beste Wahl ist. Der Arzt bringt die medizinischen Fakten: „Mit diesem Medikament sinkt dein Schubrisiko um 60 %, aber die Wahrscheinlichkeit einer schweren Infektion steigt von 1,2 auf 1,8 pro 100 Patienten pro Jahr.“ Du bringst dein Leben mit: „Ich reise oft, kann nicht jeden Tag eine Spritze vertragen.“ „Ich will Kinder haben.“ „Ich habe Angst vor dem Krankenhaus.“

Diese Methode ist nicht neu. Seit den 2010er-Jahren wird sie von Fachgesellschaften wie der American College of Rheumatology und der European League Against Rheumatism als Standard empfohlen. Doch nur 22 % der Rheumatologen nutzen dabei wirklich bewährte Entscheidungshilfen - obwohl 89 % sagen, dass sie wichtig sind. Der Abstand zwischen Theorie und Praxis ist groß.

Warum ist das bei Autoimmunerkrankungen so wichtig?

Weil die Risiken nicht zu unterschätzen sind. Bei Multipler Sklerose kann ein Medikament wie Natalizumab die Schübe um 70 % reduzieren. Aber es bringt auch ein Risiko: Progressive multifokale Leukoenzephalopathie (PML). Die Wahrscheinlichkeit? 1 von 1.000 Patienten. Klingt gering? Aber wenn du einer von ihnen bist, ist es kein statistischer Wert mehr - das ist dein Leben. Ein anderer Patient könnte sich mit einem niedrigeren Wirkungsgrad zufriedengeben, wenn er dafür keine Infektionsgefahr eingeht. Wer entscheidet? Der Arzt? Oder du? Oder beide zusammen?

Bei Rheuma ist es ähnlich. Biologika wie Adalimumab helfen 60 % der Patienten, Methotrexat nur 50 %. Klingt nach einem klaren Gewinner. Aber: Biologika erhöhen das Risiko schwerer Infektionen. Und wenn du als Pflegekraft arbeitest, die jeden Tag mit kranken Menschen zu tun hat, ist das kein kleines Detail - das ist ein entscheidender Faktor.

Wie funktioniert das in der Praxis?

Es gibt einen klaren Ablauf - und er dauert nicht mal 15 Minuten. Drei Schritte:

  1. Team-Talk: „Ich möchte, dass wir gemeinsam entscheiden. Was ist dir wichtig?“ - Das dauert 1-2 Minuten.
  2. Option-Talk: Der Arzt zeigt dir klare Zahlen: „Dieses Medikament hilft 6 von 10 Menschen, aber 2 von 100 bekommen eine schwere Infektion.“ Keine vagen Aussagen wie „etwas risikoreicher“. Sondern konkrete Prozentzahlen. Manchmal mit Bildern, Videos oder gedruckten Hilfen - wie sie die Arthritis Foundation oder die National MS Society kostenlos anbieten.
  3. Decision-Talk: „Welche Option passt am besten zu deinem Alltag?“ - 3-5 Minuten, um aufeinander zuzugehen.

Diese Methode hat einen Namen: die „Three-Talk-Methode“. Studien zeigen, dass Patienten, die diesen Weg gehen, 82 % der Zeit ihre Medikamente auch wirklich einnehmen - im Vergleich zu nur 63 % bei klassischen Beratungen. Das ist kein kleiner Unterschied. Das ist der Unterschied zwischen stabilen Monaten und wiederholten Krankenhausaufenthalten.

Eine Hand berührt eine glühende Entscheidungsfläche mit Symbolen für Therapie, Familie und Reisen.

Was hilft wirklich - und was nicht?

Entscheidungshilfen sind kein Luxus. Sie sind essenziell. Ein Tool wie „MS Decisions“ von der University of Michigan zeigt das PML-Risiko nicht als „0,1 %“ an - das versteht niemand. Sondern als „1 von 1.000 über zwei Jahre“. Das macht es greifbar. Eine Umfrage unter 127 Patienten ergab: 4,6 von 5 Sternen. Weil sie endlich verstanden haben, worauf sie sich einlassen.

Aber: Digitale Tools allein reichen nicht. Wer über 65 ist oder schlecht mit Zahlen umgehen kann, braucht menschliche Unterstützung. Ein Arzt, der fragt: „Was bedeutet dir das?“, statt nur vorzulesen. Wer das nicht tut, verliert Patienten - und zwar nicht wegen der Krankheit, sondern wegen der schlechten Kommunikation. Eine Studie von Optum zeigte: 38 % der Patienten, die Biologika absetzten, taten das nicht wegen Nebenwirkungen, sondern weil die Therapie nicht zu ihrem Leben passte.

Warum tun Ärzte es nicht öfter?

Zeit. Das ist die größte Hürde. Ein typischer Rheumatologie-Termin dauert 15 Minuten. In 10 davon geht es um Blutwerte, Symptome, Medikamentenüberwachung. Für gemeinsame Entscheidungsfindung bleibt kaum noch etwas. 78 % der Ärzte sagen, sie haben nicht genug Zeit. Doch Studien zeigen: Wenn Patienten vorher eine Entscheidungshilfe nutzen, spart das bis zu 3,2 Minuten pro Termin. Die Lösung liegt nicht in längeren Terminen - sondern in besserer Vorbereitung. Ein Online-Fragebogen zu Hause, der deine Werte erfasst, bevor du kommst - das macht den Termin effizienter.

Ein weiteres Problem: Viele Ärzte wurden nie richtig ausgebildet. Die OPTION-Skala misst, wie gut Ärzte Patienten einbeziehen - und zeigt: Ohne spezielle Schulung (8-12 Stunden) ist es kaum möglich, das richtig zu machen. Die meisten Ärzte wollen es gut machen. Aber sie wissen nicht, wie.

Was passiert, wenn du nicht mitbestimmst?

Du bekommst vielleicht eine „gute“ Therapie - aber nicht die richtige für dich. Du nimmst ein Medikament, das deine Werte verbessert - aber du fühlst dich elend. Du hast Angst, die Spritze zu machen, weil du dich nicht informiert hast. Du hörst auf, weil du dich nicht verstanden fühlst. Du landest im Krankenhaus, weil eine Infektion nicht rechtzeitig erkannt wurde - weil du nicht wusstest, worauf du achten musst.

Ein Patient auf Reddit schrieb: „Mein Rheumatologe hat mir drei Biologika aufgezählt - in 90 Sekunden. Keine Frage, kein Bild, kein Gespräch. Ich nahm das erste. Nach drei Monaten war ich so erschöpft, dass ich meinen Job aufgeben musste. Ich fühlte mich wie ein Versuchskaninchen.“

Das ist kein Einzelfall. 63 % der MS-Patienten in einer Umfrage der National MS Society fühlten sich während der Beratung gedrängt. Sie hatten keine Chance, ihre Bedenken zu äußern.

Arzt und Patient kämpfen gemeinsam gegen das Unverständnis, dargestellt als Schattenwesen in einer animehaften Klinik.

Was kannst du tun?

Sei kein passiver Patient. Du hast das Recht, Fragen zu stellen - und die Antwort zu verstehen. Frag:

  • „Welche Optionen gibt es, und wie wirken sie genau?“
  • „Wie hoch ist das Risiko für schwere Nebenwirkungen - in Zahlen, nicht in Worten?“
  • „Wie passt das zu meinem Alltag - Arbeit, Familie, Reisen?“
  • „Gibt es eine Entscheidungshilfe, die ich vorher ansehen kann?“
  • „Was passiert, wenn ich nichts mache?“

Such dir Hilfen: Die Arthritis Foundation bietet kostenlose Entscheidungshilfen für Rheuma, Psoriasis-Arthritis und Lupus an. Die National MS Society hat ein Tool namens „MS Values“, das dir hilft, deine Prioritäten zu klären: Ist dir mehr Sicherheit vor Schüben wichtig? Oder die Freiheit, ohne Spritzen zu leben?

Wenn dein Arzt keine Hilfen kennt - frag nach. Wenn er sagt, „das ist nicht nötig“ - dann such dir einen anderen. Es gibt Ärzte, die das machen. Und sie sind nicht die teuersten. Sie sind die, die dich als Mensch sehen - nicht als Fallnummer.

Die Zukunft: KI, Bezahlung und mehr Transparenz

Die Technik hilft. Im März 2023 wurde die erste KI-gestützte Entscheidungshilfe für Rheuma von der FDA zugelassen - ArthritisIQ. Sie verknüpft deine Symptome, Blutwerte und Lebensumstände und zeigt dir personalisierte Risiko-Nutzen-Profile. In Deutschland wird das noch nicht flächendeckend genutzt - aber es kommt.

Auch die Bezahlung verändert sich. In den USA verknüpft Medicare jetzt 9 % der Zahlungen mit Patientenzufriedenheit - und das hängt direkt mit gemeinsamer Entscheidungsfindung zusammen. In Europa verlangt die EULAR seit 2021, dass die Entscheidungsfindung dokumentiert wird - und das führt zu besseren, passenderen Therapien.

Es ist kein Wundermittel. Aber es ist der einzige Weg, der langfristig funktioniert: Wenn du und dein Arzt als Team arbeiten - mit Daten, mit Werten, mit Respekt.

Warum du nicht warten solltest

Autoimmunerkrankungen sind langwierig. Jede Entscheidung zählt. Wenn du heute nicht mitbestimmst, entscheidet jemand anderes für dich - und das kann Jahre später noch spürbar sein. Es geht nicht darum, den besten Arzt zu finden. Sondern den richtigen Partner für deine Gesundheit. Frag dich: Fühlst du dich gehört? Verstehst du die Risiken? Hast du das Gefühl, dass deine Lebenswirklichkeit berücksichtigt wird? Wenn nein - dann ist es Zeit, das Gespräch zu verändern. Nicht mit Wut. Mit Fragen. Mit Wissen. Mit Mut.