Im Alter verändert sich der Körper - und damit auch, wie Medikamente wirken. Was bei einem 40-Jährigen sicher ist, kann für einen 80-Jährigen lebensgefährlich sein. Die Beers-Kriterien helfen Ärzten, Apothekern und Pflegern genau das zu erkennen: welche Medikamente älteren Menschen mehr Schaden als Nutzen bringen. Seit 1991 werden diese Richtlinien regelmäßig aktualisiert, und die aktuelle Version aus 2023 ist wichtiger denn je. Denn fast jeder vierte ältere Mensch in Deutschland nimmt mindestens ein Medikament ein, das nach den Beers-Kriterien als potenziell unangemessen gilt.
Die Beers-Kriterien sind eine wissenschaftlich fundierte Liste von Medikamenten, die bei Menschen ab 65 Jahren oft riskanter sind als nützlich. Sie wurden von Dr. Mark Beers entwickelt und seit 2011 von der American Geriatrics Society (AGS) gepflegt. Die Kriterien sagen nicht: „Das Medikament verbieten.“ Sie sagen: „Vorsicht. Bei älteren Menschen kann das hier schwerwiegende Nebenwirkungen haben.“
Die Liste ist nicht beliebig. Jeder Eintrag basiert auf Studien, die zeigen, dass bestimmte Wirkstoffe bei älteren Menschen häufig zu Stürzen, Verwirrtheit, Nierenproblemen oder sogar zum Tod führen - besonders wenn sie über längere Zeit eingenommen werden. Die aktuelle Version von 2023 enthält 131 spezifische Medikamenten-Regeln. Davon gelten 89 für alle älteren Menschen, unabhängig von anderen Krankheiten. 22 betreffen Menschen mit bestimmten Erkrankungen, wie Demenz oder Herzinsuffizienz. Und 20 sind speziell für Menschen mit eingeschränkter Nierenfunktion.
Einige Medikamente tauchen immer wieder auf - und sie sind oft leicht zu verwechseln mit „harmlosen“ Mitteln.
Manche Medikamente sind nicht grundsätzlich verboten - aber sie brauchen besondere Vorsicht. Zum Beispiel Antihypertensiva bei niedrigem Blutdruck oder bestimmte Antidepressiva bei Herzrhythmusstörungen. Hier geht es nicht um „Ja“ oder „Nein“, sondern um „Wie? Wann? Und mit welcher Überwachung?“
Der Körper verändert sich mit dem Alter. Die Leber und Nieren arbeiten langsamer. Das Fettgewebe nimmt zu, das Muskelgewebe ab. Das bedeutet: Medikamente bleiben länger im Körper, konzentrieren sich anders und wirken stärker. Ein Medikament, das bei einem 50-Jährigen mit einer Tablette gut verträglich ist, kann bei einem 80-Jährigen mit derselben Dosis zu schwerer Verwirrung führen.
Dazu kommt: Ältere Menschen nehmen oft mehrere Medikamente ein - manchmal zehn oder mehr. Das nennt man Polypharmazie. Jedes zusätzliche Medikament erhöht das Risiko von Wechselwirkungen. Ein Schmerzmittel kann mit einem Blutverdünner zusammen eine Blutung auslösen. Ein Schlafmittel kann die Wirkung eines Blutdruckmittels verstärken - und der Patient stürzt beim Aufstehen.
Studien zeigen: Wer ein Medikament nach den Beers-Kriterien einnimmt, hat ein um 30-50 % höheres Risiko, ins Krankenhaus zu kommen. Und das Risiko steigt mit jeder weiteren unangemessenen Tablette.
Die Beers-Kriterien sind kein Gesetz. Sie sind ein Werkzeug - wie ein Thermometer, das zeigt, ob etwas heiß ist. Sie helfen Ärzten, Apothekern und Pflegekräften, Fragen zu stellen: „Warum nehmen wir dieses Medikament? Gibt es eine sicherere Alternative? Könnte es die Symptome verschlimmern?“
In den USA werden die Kriterien seit 2015 in die Qualitätssicherung von Krankenkassen (HEDIS) einbezogen. In Pflegeheimen werden sie zur Prüfung der Medikamentengabe genutzt. Das hat dazu geführt, dass viele unangemessene Medikamente abgesetzt wurden - und mehr Menschen leben ohne Nebenwirkungen.
Aber es gibt auch Kritik. Einige Ärzte sagen: „Das ist zu pauschal. Mein Patient hat Schmerzen, und ohne dieses Medikament schläft er nicht.“ Und das ist oft wahr. Die AGS betont deshalb: „Die Kriterien sollen nicht zur Strafe dienen. Sie sollen helfen, Gespräche zu führen.“
Ein Beispiel: Eine 82-jährige Frau mit Demenz bekommt seit Jahren Lorazepam wegen Unruhe. Ihr Arzt prüft mit den Beers-Kriterien: „Das ist unangemessen.“ Aber statt einfach abzusetzen, sucht er nach Ursachen: Hat sie Schmerzen? Ist sie zu warm? Ist sie einsam? Er stellt fest: Sie hat eine Blasenentzündung - und die verursacht die Unruhe. Nach der Behandlung braucht sie kein Benzodiazepin mehr.
Es gibt noch ein anderes System: STOPP-START. Es prüft nicht nur, welche Medikamente zu viel sind, sondern auch, welche fehlen. Zum Beispiel: Hat ein älterer Mensch mit Herzinsuffizienz kein Betablocker? Dann ist das ein „START“-Punkt - ein Medikament, das er braucht, aber nicht bekommt.
Die Beers-Kriterien fokussieren nur auf das, was zu viel ist. Sie sind einfacher, schneller und werden deshalb häufiger genutzt - besonders in der Pflege und bei Medikationsüberprüfungen. STOPP-START ist detaillierter, aber komplexer. Viele Ärzte nutzen beide - Beers für den schnellen Check, STOPP-START für die tiefe Analyse.
Sie müssen nicht alle Medikamente verstehen. Aber sie können drei Dinge tun:
Einige Apotheken bieten sogar kostenfreie Medikationsanalysen an. Nutzen Sie sie. Ein einfacher Check kann verhindern, dass jemand stürzt, verwirrt wird oder ins Krankenhaus muss.
Die Beers-Kriterien werden weiterentwickelt. In Zukunft könnten sie mit genetischen Daten verknüpft werden - zum Beispiel, ob jemand ein bestimmtes Gen hat, das ihn anfälliger für Nebenwirkungen macht. Auch elektronische Gesundheitsakten werden besser darin, automatisch Warnungen zu geben, wenn ein unangemessenes Medikament verschrieben wird.
Aber das Wichtigste bleibt: Kein Algorithmus ersetzt ein Gespräch. Keine Liste ersetzt ein Verständnis für den einzelnen Menschen. Die Beers-Kriterien sind kein Urteil. Sie sind ein Spiegel - der zeigt, wo wir vorsichtiger sein müssen. Und sie erinnern uns daran: Ältere Menschen brauchen nicht mehr Medikamente. Sie brauchen bessere Entscheidungen.
Nein, die Beers-Kriterien sind in Deutschland nicht gesetzlich verbindlich. Sie gelten als Empfehlung - ähnlich wie andere klinische Leitlinien. Aber sie werden zunehmend in der Praxis genutzt, besonders in Pflegeheimen, Krankenhäusern und bei Medikationsüberprüfungen. Viele Apotheken und Krankenkassen nutzen sie als Orientierung, um Medikationsfehler zu vermeiden.
Nein. Ein Medikament, das in den Kriterien steht, muss nicht automatisch abgesetzt werden. Es bedeutet: „Vorsicht. Dieses Medikament ist bei älteren Menschen oft riskant.“ Ob es abgesetzt werden kann, hängt von der individuellen Situation ab. Manchmal ist es das beste verfügbare Mittel - dann muss man es mit besonderer Aufmerksamkeit einsetzen, mit niedriger Dosis und regelmäßiger Kontrolle. Wichtig ist: Nie ohne Absprache mit dem Arzt absetzen.
Weil viele Ärzte und Patienten glauben, sie seien harmlos - oder weil es schnell geht. Schlafmittel wirken oft sofort, während andere Ansätze wie Schlafhygiene oder kognitive Verhaltenstherapie Wochen brauchen. Aber die Nebenwirkungen sind langfristig schwerwiegender: Stürze, Verwirrung, Abhängigkeit. Die Kriterien warnen genau davor - und empfehlen stattdessen nicht-medikamentöse Ansätze oder sicherere Alternativen wie Melatonin bei bestimmten Schlafstörungen.
Am häufigsten sind es Benzodiazepine (z. B. Lorazepam), Anticholinergika (z. B. Diphenhydramin in Erkältungsmitteln), NSAIDs (z. B. Ibuprofen) und bestimmte Antidiabetika wie Glibenclamid. Auch Antipsychotika bei Demenz sind ein großes Problem - obwohl sie nachweislich das Sterberisiko erhöhen. Studien zeigen, dass bis zu 30 % der älteren Menschen in Pflegeheimen mindestens ein solches Medikament einnehmen.
Die aktuelle Version (2023) ist kostenlos auf der Website der American Geriatrics Society verfügbar: GeriatricsCareOnline.org. Dort gibt es auch eine mobile App, eine Pocket-Card und eine vereinfachte Version für Patienten auf healthinaging.org. In Deutschland werden die Kriterien oft in Fortbildungen für Ärzte und Apotheker verwendet, aber die Originalquelle bleibt die AGS.
Die Beers-Kriterien sind kein Feind der Medizin - sie sind ein Verbündeter der Sicherheit. Sie erinnern uns daran, dass weniger manchmal mehr ist. Und dass ein alter Mensch nicht einfach ein „Patient mit vielen Medikamenten“ ist - sondern ein Mensch, der ein Leben lang vertraut hat, dass Ärzte ihm helfen. Es ist unsere Aufgabe, das Vertrauen nicht zu missbrauchen.