Stellen Sie sich vor, Sie nehmen fünf verschiedene Medikamente täglich. Einige für den Blutdruck, eines gegen Diabetes, ein Schmerzmittel, ein Vitamin und ein Beruhigungsmittel. Jetzt stellen Sie sich vor, eines davon ist falsch beschriftet. Oder Sie vergessen, Ihrem Arzt zu sagen, dass Sie auch ein Kräuterpräparat nehmen. Was passiert dann? In Deutschland erleben ein Fünftel aller Patienten mit häuslicher Pflege oder Infusionstherapie eine vermeidbare Medikationsfehler. Das ist kein kleines Risiko. Es ist ein echtes Gesundheitsproblem. Aber es ist kein unüberwindbares Problem. Mit einem persönlichen Medikationssicherheitsplan können Sie das Risiko deutlich senken - und zwar gemeinsam mit Ihrem Behandlungsteam.
Warum brauchen Sie einen Medikationssicherheitsplan?
Ein Medikationssicherheitsplan ist kein formeller Dokument, den Ihr Arzt Ihnen gibt. Er ist Ihr persönliches Werkzeug, um sicherzustellen, dass jede Tablette, jeder Tropfen und jede Injektion genau das tut, was sie soll - und nichts, was sie nicht soll. Die meisten Medikationsfehler entstehen nicht, weil ein Apotheker etwas falsch abgefüllt hat. Laut der American College of Clinical Pharmacology (ACCP) sind 50 bis 60 % der Probleme auf Fehler bei der Verschreibung oder Überwachung zurückzuführen. Und 20 % entstehen, weil Patienten und ihre Angehörigen nicht richtig kommunizieren. Das heißt: Sie sind nicht nur ein Empfänger von Medikamenten. Sie sind ein entscheidender Teil des Teams.
Schritt 1: Machen Sie eine vollständige Medikationsliste
Fangen Sie damit an, alles aufzuschreiben, was Sie einnehmen. Nicht nur die verschriebenen Medikamente. Sondern auch:
- Rezeptfreie Schmerzmittel wie Ibuprofen oder Paracetamol
- Vitamine, Mineralien und Nahrungsergänzungsmittel
- Kräuterpräparate wie Johanniskraut, Ginkgo oder Baldrian
- Supplemente, die Sie von Freunden oder Online-Shops bekommen haben
Vergessen Sie nichts. Selbst wenn Sie denken, es sei „nur ein Naturprodukt“ - viele Kräuter wirken genau wie Medikamente. Johanniskraut kann zum Beispiel die Wirkung von Blutverdünner oder Antidepressiva beeinträchtigen. Schreiben Sie bei jedem Medikament auf:
- Den genauen Namen (z. B. „Rosuvastatin“ statt nur „Cholesterinmedikament“)
- Die Dosierung (z. B. „10 mg täglich“)
- Wie oft und zu welcher Tageszeit Sie es einnehmen
- Wofür es verschrieben wurde (z. B. „für hohen Blutdruck“)
- Wer es verschrieben hat (Arztname und Praxis)
Halten Sie diese Liste aktuell. Aktualisieren Sie sie mindestens einmal im Jahr - oder sofort, wenn sich etwas ändert. Tragen Sie eine Kopie immer bei sich. In Ihrer Brieftasche, in Ihrer Tasche oder im Handy als Foto. Wenn Sie ins Krankenhaus kommen oder einen Notfall haben, ist diese Liste lebenswichtig.
Schritt 2: Besprechen Sie jede Medikation mit Ihrem Arzt oder Apotheker
Bringen Sie Ihre Liste zu jeder Arzt- oder Apothekertermin. Machen Sie kein „Ich nehme, was mir gegeben wird“-Gespräch. Fragen Sie aktiv:
- Warum nehme ich dieses Medikament? Was soll es bewirken?
- Welche Nebenwirkungen kann es haben? Welche sind gefährlich?
- Wie weiß ich, ob es wirkt?
- Gibt es Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten, die ich einnehme?
- Kann ich dieses Medikament absetzen, wenn es nicht mehr nötig ist?
Besonders wichtig: Fragen Sie explizit nach Wechselwirkungen. Viele Patienten nehmen Vitamin D, Magnesium oder Omega-3-Öl - und wissen nicht, dass diese mit Blutdruck- oder Herzmedikamenten interagieren können. Ein Apotheker kann das in fünf Minuten prüfen. Machen Sie es zur Routine. Bringen Sie immer Ihre aktuelle Liste mit. Und bitten Sie den Apotheker, Ihnen die Medikamente in Originalverpackungen zu geben - nicht in lose Tütchen, die keine Etiketten haben.
Schritt 3: Lagern Sie Medikamente sicher auf
Medikamente gehören nicht in die Küchenschublade neben den Zucker oder in die Badezimmerschublade, wo es feucht und warm ist. Und sie gehören auf keinen Fall für Kinder, Enkel oder andere Personen zugänglich. Die Innerspace Counseling empfiehlt:
„Medikamente sollten in einem verschlossenen Schrank oder einer verschlossenen Box aufbewahrt werden.“
Das ist besonders wichtig, wenn Sie oder ein Familienmitglied Demenz, kognitive Einschränkungen oder eine Suchtproblematik hat. Ein älterer Mensch, der sein Herzmedikament in einer unlabeleden Schachtel neben dem Bett liegen hat, könnte es mit einem anderen Medikament verwechseln - und versehentlich eine Doppel-Dosis nehmen. Das passiert häufiger, als man denkt. Ein Fall aus einer Patienten-Foren-Diskussion: Eine Frau nahm täglich ein Medikament gegen Bluthochdruck. Sie hatte es in einer leeren Bonbon-Dose aufbewahrt. Als sie Kopfschmerzen bekam, nahm sie „eine Tablette“ - und es war die Herzmedikation. Sie musste ins Krankenhaus. Ein einfaches Schloss hätte das verhindert.
Verwenden Sie einen Medikamenten-Organizer mit Fächern für Morgen, Mittag, Abend und Nacht. Und beschriften Sie jede Schachtel klar: Name des Medikaments, Dosierung, und ob es morgens, mittags oder abends eingenommen werden soll. Nutzen Sie dicke, leserliche Stifte. Keine kleinen, verschwommenen Etiketten.
Schritt 4: Entwickeln Sie ein klares Einnahmesystem
Ein Medikament ist nur dann sicher, wenn es zur richtigen Zeit, in der richtigen Dosis und auf die richtige Weise eingenommen wird. Für viele Menschen ist das eine Herausforderung - besonders bei mehreren Medikamenten, unterschiedlichen Einnahmezeiten oder kognitiven Einschränkungen.
Nutzen Sie einen pillen-Organizer mit Tages- und Uhrzeit-Fächern. Füllen Sie ihn einmal pro Woche. Setzen Sie einen Alarm auf Ihr Handy oder einen einfachen Wecker für jede Einnahmezeit. Wenn Sie schwerhörig sind oder schlecht sehen: Fragen Sie Ihren Arzt, ob es eine Version des Medikaments mit größeren Zahlen oder einem Farbcode gibt. Die Alzheimer-Gesellschaft empfiehlt:
„Verwenden Sie einfache Sprache und klare Anweisungen. ‚Hier ist die Tablette gegen Ihren Bluthochdruck. Nehmen Sie sie mit einem Schluck Wasser ein.‘“
Wenn Sie unsicher sind, ob Sie etwas schon eingenommen haben, zählen Sie die Pillen im Organizer. Nicht auf Ihr Gefühl verlassen. Und wenn Sie eine Dosis verpasst haben: Rufen Sie nicht einfach den Arzt an. Suchen Sie in der Packungsbeilage nach der Anweisung. Oder fragen Sie Ihren Apotheker. Manche Medikamente dürfen nicht einfach nachgeholt werden - andere schon.
Schritt 5: Planen Sie regelmäßige Kontrollen ein
Medikamente wirken nicht immer so, wie erwartet. Manche Nebenwirkungen treten erst nach Wochen auf. Einige Medikamente verlieren ihre Wirkung, andere werden zu stark. Deshalb brauchen Sie regelmäßige Kontrollen.
Vereinbaren Sie mindestens einmal pro Jahr ein ausführliches Medikations-Review mit Ihrem Hausarzt oder Ihrem Facharzt. Bringen Sie Ihre aktuelle Liste mit. Fragen Sie: „Sind alle diese Medikamente immer noch nötig?“ „Gibt es neue, sicherere Alternativen?“ „Kann ich eines absetzen?“
Wenn Sie Psychopharmaka einnehmen, eine chronische Krankheit haben oder älter als 70 sind, sollten Sie alle drei bis sechs Monate eine Kontrolle machen. Notieren Sie sich vor dem Termin: Haben Sie ungewöhnliche Müdigkeit, Schwindel, Verwirrung, Verstopfung, Stürze oder Veränderungen im Appetit? Diese Symptome können auf Medikationsprobleme hinweisen - nicht auf „alternde Körper“.
Schritt 6: Haben Sie einen Notfallplan
Was passiert, wenn Sie stürzen, bewusstlos werden oder ins Krankenhaus kommen? Wer weiß, was Sie einnehmen? Wer kann Ihrem Arzt sagen, welche Medikamente Sie nicht nehmen dürfen?
Erstellen Sie eine Notfallkarte: Eine DIN-A6-Karte, die in Ihrer Brieftasche oder an Ihrer Kette hängt. Darauf steht:
- Alle Medikamente mit Namen und Dosierung
- Alle Allergien (Medikamente, Lebensmittel, Stoffe)
- Chronische Krankheiten (z. B. Diabetes, Herzinsuffizienz)
- Notfallkontakt (Name, Telefon, Beziehung)
- Medikationsplan-Verantwortlicher (z. B. „Meine Tochter Anna kennt meine Medikamente“)
Sprechen Sie mit einer vertrauenswürdigen Person - einem Familienmitglied, Freund oder Nachbarn - und sagen Sie: „Wenn ich nicht mehr antworte, zeig diese Karte dem Arzt.“
Was, wenn Sie Hilfe brauchen?
Sie brauchen keine perfekte Erinnerung. Sie brauchen kein perfektes Gedächtnis. Wenn Sie merken, dass Sie die Medikamente nicht mehr sicher verwalten können - weil Sie vergessen, verwirrt sind oder alleine leben - dann fragen Sie nach Unterstützung.
Ein Familienmitglied kann die Pillen organisieren. Ein Pflegedienst kann die Einnahme überwachen. Ein Apotheker kann eine Medikationsberatung anbieten. Viele Krankenkassen in Deutschland bieten kostenlose Medikations-Checks an. Fragen Sie bei Ihrer Krankenkasse nach: „Gibt es einen Medikations-Check für mich?“
Einige Apotheken haben auch spezielle Systeme: Sie verpacken Ihre Medikamente in Tagesportionen mit Namen und Uhrzeit - und liefern sie zu Ihnen nach Hause. Das ist besonders sinnvoll, wenn Sie mehr als fünf Medikamente täglich einnehmen.
Was ist mit digitalen Apps?
Es gibt viele Apps, die an die Einnahme erinnern. Aber sie ersetzen nicht das Gespräch mit Ihrem Arzt. Eine App kann Ihnen sagen: „Nehmen Sie jetzt Ihre Tablette.“ Aber sie kann nicht prüfen, ob das Medikament noch nötig ist. Oder ob es mit einem neuen Medikament interagiert. Deshalb: Nutzen Sie Apps als Unterstützung - nicht als Ersatz für menschliche Kommunikation.
Was ist der größte Fehler?
Der größte Fehler ist, zu glauben, dass „es nicht passieren kann - ich bin doch aufmerksam“. Viele Menschen, die einen Medikationsfehler erlebt haben, sagen später: „Ich dachte, ich hätte alles im Griff.“
Aber Medikationssicherheit ist kein Einzelkampf. Sie ist ein Teamwork. Ihr Arzt, Ihr Apotheker, Ihre Familie, Ihre Pflege - und Sie. Jeder hat eine Rolle. Und wenn Sie Ihre Rolle verstehen, dann schützen Sie sich nicht nur. Sie schützen auch die Menschen, die Ihnen wichtig sind.
Ein Medikationssicherheitsplan ist kein Dokument, das Sie einmal ausfüllen und dann vergessen. Er ist eine Lebensweise. Eine Routine. Eine Frage der Sicherheit. Und sie beginnt mit einer einfachen Frage: „Was nehme ich wirklich ein - und warum?“
Wie oft sollte ich meine Medikationsliste aktualisieren?
Aktualisieren Sie Ihre Liste mindestens einmal pro Jahr - oder sofort, wenn sich etwas ändert: ein neues Medikament, eine Dosisänderung, ein abgesetztes Medikament oder ein neues Ergänzungsmittel. Vergessen Sie nicht, auch rezeptfreie Mittel, Vitamine und Kräuter hinzuzufügen. Halten Sie die Liste immer aktuell, besonders vor Arztbesuchen oder Krankenhausaufenthalten.
Warum sind Kräuterpräparate bei Medikationssicherheitsplänen wichtig?
Kräuter wie Johanniskraut, Ginkgo oder Baldrian wirken wie Medikamente und können mit verschriebenen Arzneimitteln interagieren. Johanniskraut kann die Wirkung von Blutverdünner, Antidepressiva oder Hormonpräparaten beeinträchtigen. Viele Patienten denken, „natürlich“ bedeute „sicher“ - das ist ein gefährlicher Irrtum. Deshalb müssen Kräuter auf der Liste stehen - genau wie verschriebene Medikamente.
Was mache ich, wenn ich eine Dosis vergessen habe?
Prüfen Sie zuerst die Packungsbeilage - dort steht, ob Sie die Dosis nachholen dürfen. Wenn nicht sicher, rufen Sie Ihren Apotheker an. Nicht jeder Arzt ist erreichbar, aber ein Apotheker kann innerhalb von Minuten sagen, ob eine Nachgabe sicher ist. Nie einfach verdoppeln, nur weil Sie eine vergessen haben - das kann gefährlich sein.
Kann ich Medikamente einfach absetzen, wenn ich mich besser fühle?
Nein. Viele Medikamente - besonders gegen Bluthochdruck, Diabetes oder Depression - müssen über längere Zeit eingenommen werden, auch wenn Sie sich gut fühlen. Absetzen ohne Rücksprache kann zu Rückfällen, Blutdruckkrisen oder schweren Entzugserscheinungen führen. Sprechen Sie immer mit Ihrem Arzt, bevor Sie ein Medikament absetzen - auch wenn es „nur“ ein Vitamin ist.
Was ist ein High-Alert-Medikament?
High-Alert-Medikamente sind Medikamente, die bei falscher Anwendung zu schweren oder tödlichen Folgen führen können - zum Beispiel Insulin, Blutverdünner wie Warfarin oder starke Schmerzmittel wie Morphin. Diese Medikamente erfordern extra Vorsicht: klare Etiketten, doppelte Kontrolle bei der Einnahme und regelmäßige Überwachung durch Ihr Behandlungsteam. Fragen Sie Ihren Arzt: „Ist eines meiner Medikamente ein High-Alert-Medikament?“
Wie kann ich mein Behandlungsteam besser einbinden?
Bringen Sie Ihre Medikationsliste zu jedem Termin. Fragen Sie explizit nach Wechselwirkungen. Schreiben Sie Ihre Fragen auf, bevor Sie zum Arzt gehen. Sagen Sie: „Ich möchte sicherstellen, dass alle meine Medikamente miteinander verträglich sind.“ Machen Sie es zur Norm, nicht zur Ausnahme. Je mehr Sie kommunizieren, desto sicherer wird Ihre Behandlung.